Die sogenannte „Doppelte Halbsprachigkeit“: eine sprachwissenschaftliche Stellungnahme
02.12.2010
In der öffentlichen Diskussion, gerade auch in bildungspolitischen Kontexten, findet man in letzter Zeit häufig die Aussage, Kinder, die mit zwei Sprachen aufwüchsen, entwickelten oft eine „doppelte Halbsprachigkeit“, d.h. sie könnten keine der beiden Sprachen „richtig“ sprechen.
Für eine solche Annahme gibt es keine sachliche Grundlage: Die sogenannte „doppelte Halbsprachigkeit“ ist ein populärer Mythos, der auf einer Fehleinschätzung von Sprache und sprachlicher Vielfalt beruht. Er gibt eher die soziale Bewertung – genauer: Abwertung – eines bestimmten Sprachgebrauchs wieder als sprachliche oder grammatische Fakten.
Aus der sprachwissenschaftlichen Forschung wissen wir:
- Das Aufwachsen mit zwei oder auch mehr Sprachen stellt kein Problem für Kinder dar. Mehrsprachigkeit von Kindesbeinen an ist der Normalfall in menschlichen Gesellschaften: Die Mehrheit der Menschen ist heute mehrsprachig. Ein Aufwachsen mit nur einer Sprache ist die Ausnahme, nicht die Norm.
- Mehrsprachige Kinder verhalten sich nicht wie „doppelt einsprachige“ Kinder. Sie haben ein besonderes Sprachprofil, bei dem die beiden Sprachen unterschiedliche Spezialisierungen haben können – etwa eine Sprache für den informellen und familiären Bereich, eine für den stärker formellen öffentlichen Bereich. Sie zeigen oft einen innovativeren Umgang mit Sprache, z.B. durch Sprachspiele, den Wechsel von einer Sprache in die andere, neue Fremdwörter oder grammatische Neuerungen. Die mehrsprachige Situation macht Kinder kommunikativ versierter und flexibler und kann ihnen das Lernen von Fremdsprachen erleichtern.
- Sprache tritt in vielen Varianten auf (z.B. informelle Umgangssprache, Jugendsprachen, Dialekte, Sprechen in formellen Kontexten, Schriftsprache). Wir alle beherrschen nicht nur eine Variante, sondern besitzen ein sprachliches Repertoire, aus dem wir je nach Situation gezielt auswählen (z.B. Umgangssprache oder SMS mit Freunden, formelleres Sprechen in einer Behörde, Schriftsprache in einem förmlichen Brief). Der Sprachgebrauch unterscheidet sich auch nach sozialen Schichten, d.h. in unterschiedlichen sozialen Schichten können sich auch unterschiedliche sprachliche Varianten entwickeln.
- Grammatische Eigenheiten von Dialekten und anderen sprachlichen Varianten werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft als „Fehler“ missverstanden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eine Variante typisch für Sprecher niedrigerer sozialer Schichten ist. Das Standarddeutsche (das sogenannte „Hochdeutsch“) ist aber nur eine von vielen Varianten des Deutschen. Es besitzt zwar ein besonderes soziales Prestige, ist jedoch nicht grammatisch „besser“ als andere Varianten. Eine Konstruktion wie „meiner Mutter ihr Hut“, die in vielen deutschen Dialekten möglich ist, ist grammatisch gesehen eher komplexer als die Standardform „der Hut meiner Mutter“. In der Umgangssprache kann ich in Sätzen wie „Sie will so mit Paul telefonieren.“ durch „so“ die wichtige, neue Information im Satz kennzeichnen; etwas, das ich im Standarddeutschen nur durch Betonung verdeutlichen kann. In Kiezdeutsch eröffnen Sätze wie „Danach ich fahre zu meinem Vater.“ eine zusätzliche Möglichkeit, Informationen zu verpacken, die wir im Standarddeutschen nicht haben – die Zeitangabe („danach“), die den Rahmen für das Geschehen liefert, kann hier gemeinsam mit dem Subjekt („ich“) am Anfang stehen. Diese grammatische Möglichkeit ist dem Deutschen nicht fremd, es gab sie schon einmal auf früheren Sprachstufen. Im Laufe der Sprachgeschichte ist sie verloren gegangen und lebt nun in Kiezdeutsch wieder auf.
- Die Kompetenz in der Standardsprache soll nach wie vor ein schulisches Ziel bleiben. Dies zwingt aber keineswegs, gegen neue urbane Dialekte und Jugendsprachen vorzugehen, die so reich und bunt sind wie andere deutsche Dialekte auch. In vielen Gegenden Deutschland, in denen der Dialektgebrauch noch stark ausgeprägt ist, kann man mit dieser Situation gut leben. Baden-Württemberg wirbt sogar damit, dass man „alles außer Hochdeutsch kann“. Dialektgebrauch muss keineswegs in eine wirtschaftliche Benachteiligung münden.
- Die Sprache der Schule, die auf dem Standarddeutschen aufbaut, ist besonders nah am Sprachgebrauch der Mittelschicht. Kinder aus anderen sozialen Schichten, und zwar einsprachige ebenso wie mehrsprachige Kinder, schneiden daher z.B. im „Deutsch-“ Test regelmäßig schlechter ab: Sie sind mit dem Standarddeutschen der Mittelschicht weniger vertraut. Zu ihren sprachlichen Kompetenzen gehören jedoch auch Kompetenzen in anderen Varianten als dem Standarddeutschen (und ebenso z.B. im Standardtürkischen). Dies bedeutet daher nicht, dass diese Kinder „halbsprachig“ sind oder „keine Sprache richtig“ sprechen können. Es bedeutet, dass ihre Kompetenzen in der Standardsprache der Schule noch gefördert werden müssen. Eine solche Förderung kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn wir die sprachlichen Kompetenzen von Kindern objektiv würdigen und uns nicht den Blick durch Fehleinschätzungen wie der der „doppelten Halbsprachigkeit“ verstellen lassen.
Prof. Dr. Heike Wiese, Prof. Dr. Christoph Schroeder, Zentrum für Sprache, Variation und Migration, Universität Potsdam
Prof. Dr. Malte Zimmermann, Sonderforschungsbereich „Informationsstruktur“, Universität Potsdam und Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Manfred Krifka, Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft, Berlin
Prof. Dr. Christoph Gabriel, Sonderforschungsbereich „Mehrsprachigkeit“, Universität Hamburg
Prof. Dr. Ingrid Gogolin, Kompetenzzentrum Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und Landesexzellenzcluster „Linguistic Diversity Management in Urban Areas“, Universität Hamburg
Prof. Dr. Wolfgang Klein, Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen
Prof. Dr. Bernard Comrie, Prof. Dr. Michael Tomasello, Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Leipzig; Abteilungen für Sprachwissenschaft und für vergleichende und Entwicklungspsychologie
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