Programmbereich 2 untersucht der Erwerb anaphorischer Relationen im Altersbereich von 3 bis 6 Jahren in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Bulgarisch. Gegenwärtig wird die anaphorische Kapazität von Null-, Personal-, Demonstrativ- und Relativpronomen in den verschiedenen Altersstufen erforscht. Die zentralen Forschungsfragen sind: Nach welchen Kriterien richten sich Kinder bei der Bestimmung der anaphorische Kapazität der einzelnen Pronomentypen, konkret welche semantischen und syntaktischen Merkmale der Antezedenten nutzen sie? Ist die Korrelation von Pronomentyp und bestimmten Antezedentenmerkmalen kategorial festgelegt oder liegt kontextabhängige Variation in diesen Korrelationen vor? Wie entwickeln sich die Kriterien für Produktion und Verständnis von Pronomen mit dem Alter?
Der Programmbereich untersucht, wie Kinder Wörter erlernen und verwenden, die keine feststehende konkrete Bedeutung haben, sondern zuvor erwähnte sprachliche Einheiten weiterführen (er, der, dieser, einer, mancher, was, das usw.). Etwas vereinfacht, geht es um die Frage, welches Wissen Kinder erwerben, um zu erkennen, dass im Beispiel (a)
a. Der Vater traf gestern seinen Bruder. Er hat sich sehr gefreut.
das Pronomen er typischerweise dazu genutzt wird, um das Subjekt des vorangehenden Satzes der Vater weiterzuführen und in Beispiel (b)
b. Der Vater traf gestern seinen Bruder. Der hat sich sehr gefreut.
das Pronomen der genutzt wird, wenn im Folgenden über das weniger zentrale Element seinen Bruder gesprochen werden soll.
Die einzelnen Schritte im Erwerb dieser sogenannten Resolutionsstrategien sind bisher kaum untersucht worden. Dies ist sowohl aus sprachtheoretischer als auch aus Sicht der kindlichen Sprachentwicklung ein Desiderat. Aus linguistischer Sicht sind diese rückverweisenden Einheiten (Anaphern) ein Phänomen, an dem sich das Zusammenwirken von grammatischen, semantischen und pragmatischen Faktoren im Aufbau des Sprachsystems untersuchen lässt. Zugleich haben Erkenntnisse auf diesem Gebiet unmittelbar praktische Relevanz. So stellen Anaphern z. B. in der maschinellen Textverarbeitung ein zentrales Problem dar und im Spracherwerb selbst sind sie eine Voraussetzung dafür, komplexere Dialoge und Texte verstehen und produzieren zu können. Die Problematik der Anaphernverwendung ergibt sich aus der Komplexität und variablen Interaktion der involvierten Faktoren. Untersuchungen zum Spracherwerb, insbesondere sprachvergleichend angelegte Untersuchungen, können dazu beitragen, größere Klarheit über grundlegende Faktoren und Strategien zu gewinnen.
Unsere Untersuchungen basieren vorrangig auf experimentellen Studien, die parallel für das Deutsche, Russische und Bulgarische mit Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren durchgeführt werden. In der gegenwärtigen Forschungsphase wird zunächst der Erwerbsprozess bei einsprachig aufwachsenden Kindern untersucht. Dies soll zu Erkenntnissen über die Herausbildung von 'anaphorischem' Wissen führen und die Basis für Untersuchungen zum bilingualen Spracherwerb bilden, die in der 2. Forschungsphase durchgeführt werden sollen. Aus der theoretischen Diskussion zur Erwachsenensprache wurden folgende Faktoren als möglicherweise grundlegend in der Verwendung von pronominalen Anaphern extrahiert: die syntaktische Rolle der Bezugseinheit in der unmittelbar vorangehenden Erwähnung (Subjekt vs. andere Rollen), die Belebtheit/Unbelebtheit des Bezeichneten, der Bekanntheitsstatus der Bezugseinheit (alte oder neue Information), die syntaktische/semantische Parallelität von Bezugseinheit und Anapher. Es sollen folgende Fragen geklärt werden:
In der zweiten Forschungsphase werden vorrangig zwei Ziele verfolgt: Es soll ermittelt werden, in welcher Weise sich bilingualer Anaphernerwerb von monolingualem unterscheidet und es soll die Robustheit der für den monolingualen Erwerb als relevant ermittelten Faktoren und Strategien überprüft werden. Geplant ist, die Sprachkombinationen Russisch/Deutsch und Bulgarisch/Deutsch zu untersuchen. Die Fragestellungen sind im Prinzip die gleichen wie in der ersten Forschungsphase. Konkretisierungen werden sich aus den Ergebnissen zum monolingualen Erwerb ergeben.