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Zahlenspiele aus Papua Neuguinea

Zahlenspiele aus Papua Neuguinea

Etwa alle zwei Wochen stirbt irgendwo auf der Welt eine Sprache aus. In den letzten Jahrzehnten gab und gibt es daher viele Förderinitiativen, um für zukünftige Generationen in großen Archiven Wissen über bedrohte Sprachen zu konservieren. Dabei sind viele überraschende Forschungsergebnisse zu Tage gefördert worden. Ein Beispiel ist das 6er-Zahlensystem im Süden Neuguineas. Dieses einzigartige System ist durch ein Ritual entstanden, bei welchem öffentlich die jährliche Ernte ausgezählt wird.

Dr. Christian Döhler lässt Sie hier hinter die Kulissen seines Sprachdokumentationsprojektes im Süden von Papua-Neuguinea schauen.


Ich berichte hier aus dem Dorf Rouku, das im Morehead District der Western Province in Papua Neuguinea liegt. Die Bewohner von Rouku sprechen Komnzo.

Eigentlich handelt es sich nicht um ein Spiel, wenn im Süden Papua Neuguineas in einem öffentlichen Ritual vor einer versammelten Menge die Yamswurzeln der Ernte ausgezählt werden. Im Süden Neuguineas gilt Yams als Grundnahrungsmittel. In strapaziöser Arbeit werden dafür die Gärten jedes Jahr aufs Neue vorbereitet. Der Boden muss beräumt und umgegraben werden. Zäune und Lagerhäuser müssen gebaut werden. Zur Erntezeit trägt man die schweren Knollen oft kilometerweit ins Vorratshaus im Dorf. Davon lebt jede Familie über die Regenzeit hinweg.

Doch auch bei größeren Festen spielen Yamswurzeln eine wichtige Rolle. Wie überall in Neuguinea gilt hier das Prinzip der Gegenseitigkeit. So werden bei Hochzeiten größere Mengen an Yamswurzeln getauscht, oft zwischen Familienklans aus zwei benachbarten Dörfern. Dabei muss die exakte Menge festgehalten werden, denn was die eine Gruppe gibt, bekommt sie im folgenden Jahr beim nächsten Fest wieder zurück. Wirtschaftlich betrachtet ist das ein Nullsummenspiel, doch wie schon der französische Ethnologe Marcel Mauss bemerkte, fördert der Tausch vor allem den sozialen Zusammenhalt und gute Nachbarschaft.

Als der australische Anthropologe Francis Edgar Williams in den 1920er Jahren durch die Region reiste, bemerkte er folgendes: "the social significance of food among these people derives largely from the pride which individuals and groups feel in having plenty of it." (Übersetzung des Autors: "die soziale Bedeutung, die Nahrungsmitteln beigemessen wird, erklärt sich aus dem gefühlten Stolz des Einzelnen oder der Gruppe darüber, dass sie viel davon haben.") Noch heute spürt man, wie wichtig den Menschen die Kultivierung von Yamswurzeln ist. Dabei kommt es zu regelrechten Wettbewerben zwischen Familien oder zwischen Dörfern. Ein älterer Komnzosprecher berichtete mir mit Stolz, wie viele wärämäkä seine Großväter zu einem Fest aufgetürmt hatten.

Damit verständlicher wird, was in dem Video von der öffentlichen Auszählung passiert, möchte ich zunächst das Zahlensystem erklären.

Wie funktioniert das 6-er Zahlensystem?

Das System, nachdem hier gezählt wird, beruht auf der Basis 6 und es findet sich in nur etwa zwei Dutzend Sprachen, die alle zur Familie der Yamsprachen gehören und alle im Süden Neuguineas gesprochen werden. Während unser Dezimalsystem auf der 10 beruht, handelt es sich hier um ein Senärsystem, also eines mit der Basis 6. Das soll heißen, dass man den Zahlwert 7 in Komnzo mit den Worten nibo a näbi "sechs und eins" ausdrückt oder den Zahlwert 20 mit den Worten ytho nibo a yda "drei sechser und zwei". Was diese Sprachen  außerdem einzigartig macht, ist die Tatsache, dass es Worte für die Potenzen von 6 gibt. Wie die Worte einhundert oder eintausend im Deutschen für die Potenzen 102 und 103 stehen, gibt es im Komnzo die Worte fta und taruba für Potenzen 62 und 63. Diese Werte entsprechen in unserem Dezimalsystem der 36 und 216. In Komnzo gibt es Worte bis hinauf zur sechsten Potenz. Hier ist das System in einer Tabelle dargestellt.

Mathematisch betrachtet ist es vollkommen egal, ob man in einem Dezimal- oder Senärsystem zählt. Sprachlich jedoch unterscheiden sich die beiden Systeme dadurch, dass bestimmte Zahlwerte in dem einen System einfacher sind als im anderen System und umgekehrt. So kann man das deutsche Wort Einhundert zwar ins Komnzo übersetzen, aber der Ausdruck yda fta a ytho nibo (wörtlich: "zwei sechsunddreißiger und drei sechser") ist doch einigermaßen sperrig. Gleichzeitig würde ein Komnzosprecher wahrscheinlich über den deutschen Ausdruck eintausendzweihundertsechsundneunzig stolpern. In Komnzo müsste man nur damno sagen und dies entspricht der Menge an Yamswurzeln, die man ernten sollte, um die Familie übers Jahr zu bringen.

Video des öffentlichen Zählrituals

In dem Video sehen wir, wie Sékri Karémbu und Ronnie Marua einen kleinen Teil ihrer Ernte auszählen. Wir sehen, wie die beiden je sechs Knollen von einem Haufen auf einen neuen Haufen befördern. Dabei hält jeder der Beiden drei Knollen. Sékri Karémbu ruft die Zahlen von eins bis sechs aus. Sobald sie bei sechs angelangt sind, wird aus dem neuen Haufen eine Knolle beiseite gelegt und sie beginnen von vorn. Die beiseite gelegten Knollen stehen nun für jeweils ein fta "sechsunddreissig" und können später ihrerseits neu gezählt werden. Auch im zweiten Durchgang würde nach dem Erreichen der sechs eine Knolle beiseite gelegt werden, welche dann für ein taruba "zweihundertundsechzehn" stünde. Aus dieser zyklischen Zählweise ergeben sich die Potenzen bis hin zu 66 oder 46.656. In Komnzo würde man dazu einfach wi sagen.

Wie ist das 6er-Zahlensystem entstanden?

Die Frage nach dem Woher? und dem Warum? drängt sich auf. In den 7000 Sprachen, die noch auf unserer Welt gesprochen werden, gibt es eine große Vielfalt an Zahlsystemen. Einige Sprachen beruhen auf der Basis 4, 8 oder 12. Die antiken Babylonier zählten auf der Basis von 60. Die Maya nutzten die 20. Das Gros der Sprachen baut jedoch auf den Zahlen 5, 10 oder 20 auf. Deren Ursprung liegt offensichtlich in der menschlichen Anatomie, hat jeder Mensch doch 5 Finger an 2 Händen und dazu noch 5 Zehen an 2 Füßen. Der Schluss liegt daher nahe, dass Zahlsysteme aus dem Abzählen von Fingern entstanden sind. Das nennt man Bodycounting und wir tun das heute noch, wenn wir in einer lauten Bar drei Bier am Tresen bestellen wollen. Dass bei den Fingern nicht Schluss sein muss, zeigen uns Sprachen aus dem Hochland von Neuguinea. Etwa in Oksapmin gibt es eine erweiterte Art des Bodycounting.

Wir können nun darüber spekulieren, wie das senäre System im Süden Neuguineas entstanden ist. Einige meiner Komnzolehrer meinten, man zähle einfach die sechs Finger der Hand ab. Zu meiner Verwunderung zählten sie mir erst die fünf Finger vor - vom kleinen Finger bis zum Daumen - und rechneten dann das Handgelenk quasi als sechsten Finger hinzu. Andere Komnzosprecher verwiesen darauf, dass sich die birnenförmigen Yamswurzeln nur in Sechsergruppen in einen Kreis legen lassen, so wie die Stücke eines Kuchens. In meiner Zeit in Rouku habe ich jedoch beobachtet, dass das senäre Zahlsystem vor allem bei rituellen Zählungen zur Anwendung kommt. Für die vielen alltäglichen Zahlwerte - etwa die Anzahl der Spieler eines Rugbyteams oder für das Zählen von Geldscheinen - bedient man sich einfach aus dem Englischen, welches eine der Amtssprachen Papua Neuguineas ist.

Das Projekt zur Dokumentation der Sprache Komnzo wurde von 2011 bis 2015 von der VolkswagenStiftung gefördert. Mehr erfahren Sie hier.